21
Auf zum Chili Choo Choo
»Sein Hintern sah niedlich aus in der neuen Hose. Er hat deiner Mutter einen guten Scotch mitgebracht, und er liebt dich. Was hast du also für ein Problem, Roseanna?«
Montagmorgen: Marcie sitzt auf der Kante meines Schreibtisches und seziert meine Thanksgiving-Feier mit einem Aktenstapel auf dem Schoß.
»Woher weißt du, dass sein Hintern niedlich aussah?«, frage ich.
»Ich weiß alles«, sagt sie und schiebt ihre schwarze Hornbrille nach oben. »Ich habe mit deiner Mutter gesprochen.«
»Und meine Mutter hat dir gesagt, dass sein Hintern niedlich aussah?«
»Na ja, nicht wortwörtlich. Sie sagte, er habe einen netten Allerwertesten.«
»Nachdem sie dir schon gesagt hat, dass sie gar nicht meine Mutter ist, ist der Rest vermutlich einfach.«
Marcie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Arme Rosie. Vom Leben hart getroffen! Dann ist sie halt deine Großmutter. Das ist doch kein Grund, rumzusitzen und ein Gesicht wie in der Prozac-Werbung zu ziehen.«
Ich erhebe mich von meinem Stuhl und stoße dabei fast gegen die Rückwand meines klaustrophobisch engen Büros. »Es bedeutet aber, dass ich einen Vater und eine Mutter habe, die ich nicht einmal kenne!«
Marcie fährt sich mit der Hand durch das stachelige blond-schwarze Haar. »Dann hast du eben eine interessante Lebensgeschichte. Ruf doch die Nationalgarde.«
»Dein Schädel sieht aus wie ein Kohlkopf«, fahre ich sie an und lasse mich wieder auf meinen Stuhl plumpsen. »Hast du überhaupt vor, diesen lächerlichen Stoppelschnitt mal zu ändern?«
»Ich lass es einfach rauswachsen«, antwortet Marcie unbeeindruckt. »Manchmal brauchen die Dinge einfach etwas Zeit, Rosie.« Sie sieht mich bedeutungsvoll an und steht dann auf, um zu gehen.
»Warte!«, rufe ich. »Verrat mir eins: Was willst du mir damit sagen? Wenn du herausfinden würdest, dass du nicht weißt, wer deine Mutter und dein Vater sind, würdest du dann auch einfach darauf warten, dass die Farbe in deinem Haar rauswächst und du alles vergisst?«
Marcie zupft nachdenklich mit der freien Hand an einem ihrer Strumpfhalter. Offensichtlich trägt sie heute eine von Seans Anzughosen und dazu ein rosa Stretchteil, das über ihrem Nabel endet. Ich kann einen einzelnen Strahl der aztekischen Sonne erkennen, die über ihren Po tätowiert ist, als sie sinnierend mit dem Rücken zu mir stehen bleibt. Sie dreht sich um und sieht mich an, kommt dann zurück und fordert ihren Sitzplatz auf meinem Schreibtisch zurück.
»Hör mal«, seufzt sie, »wenn du rausfinden willst, wer deine Eltern sind, dann leg los und finde sie. Das ist doch gar nicht so schwer. Geh online. Du kannst sie googeln! Versuch’s im Telefonbuch! Überleg doch nur mal, wie einfach es für mich war, Teddys und Ingas neues Haus zu finden.«
Bei der Erinnerung an Teddys und Ingas neues Haus zucke ich zusammen. Insbesondere im Licht des Anrufs heute Morgen, von Teddy höchstpersönlich, in dem er mich bat, ihn heute zum Mittagessen zu treffen. Es kommt mir befremdlich vor, dass ich eingewilligt habe, ihn in unserem alten Lieblingsrestaurant, dem Chili Choo Choo, zu treffen, wo wir in besseren Tagen oft gemeinsam zu Mittag gegessen haben. Ich mag Chili nicht einmal, was ich Teddy aber in den vier Jahren unserer Ehe nie gesagt habe. Und jetzt mag ich auch Teddy nicht mehr. Dennoch habe ich ihm zugesagt und werde die acht Straßen bis zum Restaurant laufen – vielleicht nur, weil ich noch den letzten Fitzel eines Beweises brauche, dass es wirklich vorbei ist und dass sein Fehlen an Helens Thanksgiving-Tafel kein Versehen war.
»Ich kann dir helfen, sie zu finden«, unterbricht Marcie meine Gedanken.
»Häh?«
»Deine Eltern. Ich kann sie für dich finden. Helen liebt mich. Ich kann es mir erlauben, sie Sachen zu fragen, die du vermutlich nicht mal andeuten dürftest.«
»Ich will das nicht über Helen laufen lassen. Und ich brauche auch keinen Vermittler.«
»Ich sehe mich eher als Botschafter.« Gedankenverloren runzelt sie die Stirn. »Botschafter der Pulkowski-Republik. Ich könnte mir die passende Ausstattung besorgen. Die Epauletten, die goldenen Knöpfe … und, ja, genau … einen von diesen süßen kleinen Hüten mit Krempe …«
»Marcie, das hier ist ernst!«
Marcie rutscht ein zweites Mal von meinem Schreibtisch. »Alles ist ernst, Rosie. Um zwei hat Gil Fortinier einen Termin bei dir, denn er ist gerade aus seinem Klempner-Job geflogen. Man sollte meinen, das ist ernst, oder? Lass es mich wissen, wenn du meine Hilfe brauchst.«
Sie drückt mir anteilnehmend den Arm. Ich folge ihrer kleiner werdenden aztekischen Sonne mit Blicken zur Tür. »Danke«, rufe ich ihr nach.
Sie dreht sich stirnrunzelnd um. »Warum bleibt Ham eigentlich nicht mehr über Nacht bei dir?«
»Er meint, wir wären noch nicht so weit.«
»Wie ist denn der drauf? Ist er eine Nonne?«
»Und du?«, entgegne ich. »Bist du ein Transvestit? Glaubst du wirklich, Seans Anzughose wäre kleidsam?«
Marcie streicht mit der Hand den Hosenboden glatt. »Jetzt hörst du dich an wie Sean. Und meine Antwort an euch beide lautet Ja.« Sie tänzelt hinaus.
Ich nehme mir Gils Akte vor und versuche, mich zu konzentrieren. Gil ist einer meiner Schützlinge mit »besonderen Bedürfnissen«, die nicht in die Kategorie geistig Behinderter fallen. Mit anderen Worten: Er ist nicht zurückgeblieben. Aber Gil hat große Probleme mit seinem Gehör. Er kann einfach nicht zwei Dinge auf einmal wahrnehmen. Wenn der Fernseher läuft und gleichzeitig ein Wasserhahn tropft, könnte das Tropfen des Wassers genauso gut ein Straßenarbeiter vor Gils offenem Fenster sein, der mit einem Presslufthammer arbeitet. Störungen der Wahrnehmung wie diese faszinieren mich. Mein Problem war immer genau gegenteilig gelagert. Ich konnte immer deutlich zwei Sachen gleichzeitig wahrnehmen. Mein Problem ist es, die Wahrheit zu erkennen.
Ich blättere in Gils Akte und in anderen, und so vergeht der Vormittag. Ich denke über Marcies Angebot nach, meine flüchtigen biologischen Eltern zu finden, und über mein durch nichts zu entschuldigendes Verhalten auf dem Parkplatz vor dem 7-Eleven. Ich denke darüber nach, mit welch einer Begeisterung Helen Mickey beim Essen über den Truthahn hinweg angesehen hat. Ich denke auch über Pulkowski nach und darüber, dass er ein wenig mehr Farbe im Gesicht gehabt hat. Und hin und wieder denke ich auch über meine Schützlinge nach.
Irgendwann zeigt die Wanduhr mir an, dass es Zeit ist, mich auf den Weg ins Chili Choo Choo zu machen, wo Teddy mit Gott weiß was für einer neuen Bombe wartet, um sie mir vor die Füße zu werfen. Vielleicht ist Inga schwanger. Vielleicht möchten sie, dass ich die Patenschaft übernehme. Ich ziehe den Mantel an und gehe zum Aufzug. Marcie telefoniert gerade, winkt mir aber zu und formt mit den Lippen ein »Viel Glück!«, als ich vorbeigehe. Zweifelsohne weiß sie, wohin ich gehe. Marcie weiß alles.
Ich sehe Teddy an einem runden Tisch im hinteren Teil des Chili Choo Choo sitzen und wartend an einer Tasse Kaffee nippen. Ich sehe ihn, bevor er mich sieht, und da ist alles, was ich einmal geliebt habe: die haselnussbraunen Augen, die matte Olivenhaut, die vereinzelt abstehenden braunen Härchen über den Ohren. Er entdeckt mich und setzt sein falsches Lächeln auf, und da ist alles, was ich schon immer gehasst habe: das weichliche Kinn, all die Versprechen, mir die Sterne vom Himmel zu holen, die über diese schmalen Lippen gekommen sind, die kleinen weißen Zähnchen, die aussehen, als hätten sie sich nach dem siebten Geburtstag geweigert weiterzuwachsen.
Schalen mit Chili kreisen auf einem Transportband im Raum. Sie gleiten an seinem Kopf vorbei und verschwinden dann in einer Holzbrücke. Das hier ist ein »Themen«-Restaurant, von denen es inzwischen viele auf Long Island gibt. Teddy liebt »Themen«-Restaurants. Er liebt Themen ganz allgemein, zum Beispiel das Rechtsanwaltthema seiner angeblichen Karriere. Und bei diesem Mittagessen haben wir es vermutlich mit dem schmalzigen Thema »Wie es einmal mit uns war« zu tun, wenn es nach ihm geht. Er erhebt sich, als ich näher komme, drückt mich mehrmals an sich und klopft mir wiederholt auf den Rücken. Ich kann an nichts anderes denken, als daran, dass er es vermutlich auf die Mikrowelle zu dem bereits entwendeten Servierwagen abgesehen hat.
»Roseanna«, seufzt er, als kämen wir jetzt zu seinem großen Auftritt im Film, und ich weiß nun mit Sicherheit, dass es bei diesem Essen nicht ums Küssen und Wiedergutmachen gehen wird.
»Wie ist es dir ergangen?«, fragt er in die unaufrichtige Umarmung hinein.
»Besser«, sage ich und mache mich von ihm los.
Er rückt mir einen Stuhl zurecht, was er in den vier Jahren unserer Ehe kaum jemals gemacht hat.
»Du siehst umwerfend aus«, sagt er.
»Bitte, Teddy. Lass den Scheiß.«
Er lässt ihn. Sein Gesichtsausdruck ändert sich. Seine Augen werden dunkel und verschwommen, und er scheint weit fort zu sein, obwohl er mir gegenübersitzt.
»Wie ich höre, hast du etwas mit jemandem aus dem Supermarkt«, sagt er.
»Ich habe mit niemandem etwas«, entgegne ich ihm. »Und jemand, der mit der besten Freundin seiner Frau schläft, hat kein Recht, über so etwas zu sprechen.«
Teddy und ich schweigen einen Moment. Ich scheine ihm einen Dämpfer verpasst zu haben. Jemand aus dem Supermarkt. Wenn er wüsste, was Ham alles ist und er nicht.
»Also gut, da dir anscheinend nicht nach Small Talk zumute ist, will ich gleich zum Punkt kommen. Ich, äh, möchte eigentlich die Scheidung.«
Ich mache den Mund auf, um etwas zu sagen, doch nichts kommt heraus. Die Chilischüsseln rattern über uns hinweg. In diesem Tohuwabohu versuche ich zu erfassen, was Teddy zu mir gesagt hat. Dann schweige ich und warte auf eine Reaktion aus meinem Inneren.
»Ich bin sicher, dass dich das nicht überrascht«, fährt er fort. »In Anbetracht der Umstände. Ich dachte, vielleicht könnten wir heute ein bisschen darüber reden, wie wir unsere Verhältnisse regeln sollen.«
»Eine hervorragende Idee«, sage ich ruhig.
»Was?«
Ich werfe einen Blick auf Teddy, der verwirrt aussieht.
»Lass uns unsere Verhältnisse regeln«, höre ich mich erneut sagen.
Teddy sieht mich misstrauisch an. »Machst du dich etwa über das Wort Verhältnis lustig, Roseanna? Wenn es das ist, um was es dir geht …«
Armer Teddy. Die Schuldgefühle. Ich lasse ihn einen Moment schmoren. »Nein«, sage ich schließlich.
Das verwirrt ihn noch mehr. »Soll das heißen, dass du … die Entscheidung nicht anfechten willst?«
Ich schüttele den Kopf. Tränen steigen mir in die Augen.
Teddy wirkt verblüfft. Dann sieht er auf und sagt: »Ich wollte heute mit dir darüber sprechen, welche, also, welche Maßnahmen wir treffen müssen.«
Ich fahre mit dem Handrücken über meine Augen.
»Ich vermute, dass dich das nicht überrascht.«
»Nein«, sage ich und merke, dass das stimmt.
»Inga und ich haben ja jetzt dieses Haus, weißt du …« Anscheinend meint er, er schulde mir eine Erklärung. Voller schlechtem Gewissen blickt er mich an, ändert dann aber seinen Ausdruck. »Ich habe mich gefragt, was du jetzt wohl so vorhast, mit der Wohnung und allem.«
»Was ich vorhabe?« Ich zwirbele am Rand einer Stoffserviette herum, während ich in Gedanken um eine Antwort auf Teddys Frage ringe. Was habe ich vor, jetzt, da Teddy und ich uns scheiden lassen werden? Habe ich vor, weiter ganz in der Nähe meines Exmannes und meiner ehemals besten Freundin zu wohnen und nur wenige Minuten von ihrem neuen Haus entfernt zu arbeiten? Habe ich vor, die Beziehung zu Jemandem aus dem Supermarkt wieder aufzunehmen – so er mich überhaupt noch haben will? Mir wird bewusst, dass ich nicht wirklich weiß, was ich mit dem Rest meines Lebens vorhabe. Nur eines weiß ich sicher, während ich meinem Mann hier im Chili Choo Choo gegenübersitze: Unsere Ehe ist vorbei.
Ich scheine an dem Restaurantstuhl festzukleben und schnappe nach Luft wie ein Fisch außerhalb des Wassers. Dann höre ich mich weinen.
Ist das so, wenn man einem Teil seines Lebens wirklich Auf Wiedersehen sagt? Teddy starrt mich entsetzt an. Er taucht in die tiefe Tasche seines Hemdes von DKNY und zieht ein Taschentuch heraus, das er mir hinhält und das ich auch annehme.
»Darf ich dich etwas fragen?«, säusele ich.
Teddy nickt und blickt leicht verängstigt drein.
»Mit welchem Geld habt ihr dieses Haus gekauft?«
Die Farbe schwindet aus seinen Lippen. »Mit Ingas Geld«, sagt er, »wenn du es wissen musst. Vorläufig zumindest.«
All diese kleinen Chipstüten, denke ich. Almost dies und Almost jenes. Ich lächle in mich hinein, und dann kann ich freier atmen. Teddy vertieft sich in die Speisekarte und runzelt die Stirn, als läse er einen Fachaufsatz. »Sobald du und ich unsere Verhältnisse auf zivilisierte Art geklärt haben«, sagt er, um sich zu rechtfertigen, »beabsichtige ich natürlich, meinen Namen in die Urkunde eintragen zu lassen und einen angemessenen Teil der Kosten zu übernehmen.«
Ich lächle erneut. Das ist das zweite Mal, dass Teddy mich gebeten hat, mich zivilisiert zu benehmen. Obwohl er es ist, der mit meiner besten Freundin in ein Haus gezogen ist, erwäge ich die Möglichkeit, dass ich diejenige bin, die unzivilisiert sein könnte. Ich, die geistig Behinderten beibringt, ihre Serviette auf dem Schoß zu falten, ihren Mantel an einen Haken zu hängen und bei Vorstellungsgesprächen dem Gegenüber höflich die Hand zu schütteln. Ich rolle einen Salzstreuer zwischen den Händen. Die Chilischüsseln rattern auf ihrer Runde weiter schaukelnd an uns vorbei, und Teddy starrt feierlich in die Speisekarte, nachdem er die schwierigste Hürde dieses Essens bewältigt hat. Es wird nicht allzu problematisch werden, nicht mehr seine Frau zu sein.
Eine Serviererin kommt mit einem Block zu uns. Sie ist jung und hübsch, in einer für Long Island typischen Weise. Der Hut eines Eisenbahningenieurs sitzt auf ihrer Hochsteckfrisur wie ein gestrandetes Fischerboot auf einer Sanddüne. Teddy lächelt sie strahlend an, und in Gedanken wandere ich zurück zu der Weihnachtsparty bei Inga. Genau so hatte er mich in jener Nacht angelächelt. Teddy löst den Blick von unserer Bedienung und sieht wieder mich an.
»Was kann ich Ihnen bringen?«, fragt die Serviererin.
»Gar nichts«, erwidere ich. Ich stehe auf, tätschle Teddy den Arm und gehe. »Wir werden unsere Verhältnisse ein andermal auf zivilisierte Art klären müssen«, sage ich zu ihm.
Der schneidende Wind lässt mich mit den Augen blinzeln, als ich die acht Straßen zurück zum Büro laufe. Ich komme an einer Frau vorbei, die einen Kinderwagen voll mit schmutzigen Fahrradreifen schiebt. Ich komme an einem schwarzen Mann mit einem gelben Labrador Retriever und einer weißen Frau mit einem schwarzen Labrador Retriever vorbei. Ich komme an Geländewagen vorbei, jeder Menge Geländewagen: Cherokees, Navigators, Range Rovers, Hummers. Fast immer sitzt eine Frau hinter dem Lenkrad, als wären diese Wagen ein Ersatz für die Männer, die sie gerne gehabt hätten – mächtige, beschützende, große Männer, die für die Frauen, die sie lieben, bereit sind, so manchen Arsch zu treten. Ich frage mich, warum ich mir nicht selber so einen gekauft habe, als ich noch mit Teddy Stracuzza verheiratet war.
Als ich wieder bei EPT bin, marschiere ich an Marcies – leerem – Platz vorbei und erspähe dann ihren stacheligen Hinterkopf im Fenster zu Seans Büro. Als ich die Tür zu meinem eigenen Raum aufmache, sitzt mein Zwei-Uhr-Termin, Gil, wie ein nasser Sandsack auf dem orangefarbenen Plastikstuhl. Diesmal ist er zu früh dran. Mein letzter Klient für diesen Tag nickt mir zu, ein deprimierter Klempner mit einer Wahrnehmungsstörung.
»Jupp«, begrüßt er mich. Die blauen Ranken einer Tätowierung schießen aus dem Kragen seines Hemdes hervor. »Ich hab Ihre Uhr da ausgemacht«, sagt er und deutet auf den Baby-Ben-Wecker, der auf meinem Schreibtisch steht. »Hoffe, das stört Sie nicht, aber der Lärm ging mir einfach auf den Sack.«
»Wie geht es Ihnen?«, frage ich und sehe ihn sorgfältig an.
Gil popelt an seiner Nagelhaut; er sieht unglücklich aus. »Die Lady legt erst ’ne Scheibe von Tony Bennett auf, und dann erzählt sie mir, was mit ihrer Spüle nicht stimmt. Ich hocke auf allen vieren in ihrer Küche, und die ganze Zeit singt der Kerl.« Gil seufzt. »Alles, was ich verstehe, ist, dass ihre Spüle in San Francisco ist. ›Sie brauchen ’ne neue Dichtung‹, ruf ich, weil ich die verdammte Musik überbrüllen muss. Die Lady fängt an zu kreischen und zu kreischen.« Er gestikuliert aufgebracht mit den tätowierten Armen – sie sind voller Totenschädel, Schwerter und Herzen, wirklich erstaunlich. »Also«, fährt er fort, »bin ich gefeuert.«
»Gefeuert?«
»Sie hat gesagt, ich soll gehen. Sagt, ich seh durchgeknallt aus.« Er reckt das Kinn ein bisschen in die Höhe.
»In den Vororten halten sie jeden für durchgeknallt«, erkläre ich ihm freundlich. »Nehmen Sie das nicht persönlich.«
Wir unterhalten uns noch eine Viertelstunde länger. Ich erinnere Gil daran, nicht vor seinen Kunden zu fluchen, doch als er bei meinem milden Tadel zusammenzuckt, höre ich auf. Es ist so viel Schmerz in dieser Welt. Kann irgendjemand von uns dem entgehen? Ich bitte ihn, in einer Woche wiederzukommen. Dann werden wir uns zusammen Berufliche Fähigkeiten führen zum Erfolg ansehen. Er geht in seiner Hülle aus Tinte und Leder. Ich schließe die Tür hinter ihm und mache mich auf die Suche nach Marcie.
»Ja?«, sagt sie und blickt von ihrem Computer hoch.
»Mach es«, sage ich zu ihr. »Finde sie.«
Marcie lässt einen ihrer Hosenträger schnalzen und grinst. »Schon erledigt«, sagt sie. »Aber versprich mir, dass dieses kleine Abenteuer sich nicht auf die Sache mit dem Metzger auswirkt.«
»Versprochen«, sage ich. »Außerdem ist er Geschäftsführer.«
»Gut«, sagt sie und wendet sich wieder ihrem Computer zu. »Und jetzt musst du bei dem Zahnarzt in Mineola anrufen. In der Wäscheabteilung geht es drunter und drüber. Eleanors Nachthemden werden anscheinend immer aufreizender.«